Anhang 2:
Die Umkehrung der sibirischen Flüsse

Sibirien ist ein riesiges Land, vom Ural bis Wladiwostok, also von West nach Ost, sind es 8000 km. Es besteht aus zwei Klimazonen:

Die Taiga ist ein riesiger Waldgürtel aus Nadelbäumen: Fichten, Kiefern, Lärchen und Beerensträucher prägen die Landschaft.

Kommt man weiter nach Norden, hören die Bäume auf und wir finden nur noch Moose, Farne und bestenfalls Zwergsträucher. Das ist die Tundra.

Schon früh kamen Pläne auf, die "schlafende Schöne Sibirien" zu wecken. Sie konzentrierten sich schließlich auf den großen Wasserreichtum des Nordens. Die großen sibirischen Ströme Lena, Ob, Irtysch und Jenissei sind allesamt über 4000 km lang, 1200 km länger als die Donau, immerhin der zweitgrößte Fluss Europas nach der Wolga (3.500 km). Sie durchfließt 10 europäische Länder.

Dummerweise, jedenfalls aus der Sicht Stalins und Breschnjews, hatte die Natur mit den Flussläufen einen gewaltigen Bock geschossen: Diese Ströme fließen nämlich alle nach Norden, bewässern also das unwirtliche Sibirien, aber nicht den Süden, der wegen des Wassermangels z.T. aus Steppen besteht.

Um diese hoffnungslose Fehlkonstruktion der Natur zu korrigieren, trat ein Heer von Planern an. Es galt, die Natur der Vernunft zu unterwerfen. Maxim Gorki brachte es auf den Punkt: "Die unvernünftigen Flüsse müssen vernünftig gemacht werden."

Aus einer Vielzahl konkurrierender Pläne machte schließlich der Dawydow-Plan das Rennen. Er verhieß, durch die Umleitung der sibirischen Ströme nach Süden unfruchtbare Gebiete in blühende Gärten zu verwandeln, die größten Trinkwasserreservoirs der Welt zu schaffen, durch die größten Kraftwerke der Welt Energie in Fülle zu generieren, das Nordmeer mit dem Baikalsee, dem Aralsee und dem Kaspischen Meer zu verbinden und so eine Schiffahrtsstraße von 4000 km Länge zu schaffen, und nebenbei noch Freizeit und Tourismus zu fördern.

Nun wurde ein regelrechter Krieg gegen die Natur geplant. Die Waffen lieferte die Technik. Die weiße Kohle Wasserkraft sollte dem Land Glück und Segen bringen. Und der Glaube an die Allmacht der Technik war so ungebrochen, dass viele Eltern ihre Neugeborenen mit dem Namen "Traktor" ausstatteten.

Für diese lichtvolle Zukunft war man bereit, die Überflutung eines Gebietes größer als Irland in Kauf zu nehmen, denn es galt, eine große Zahl von Stauseen zu bauen, um die großen sibirischen Ströme umleiten zu können. Das bedeutete den Untergang von 2600 Dörfern, 165 Städten und Zehntausenden von Fabriken und Kulturdenkmälern sowie den Verlust riesiger Nutzflächen für Land- und Forstwirtschaft. Was man geflissentlich verschwieg, war die Gefahr der Austrocknung der nördlichen Feuchtgebiete, des Untergangs von Millionen Fischen, der Klimaänderung, vor allem aber der Tod Zehntausender Häftlinge der sowjetischen Straflager.

Der Gipfel des Wahnsinns aber war erreicht, als ein Planer im Jahr 1955 vorschlug, "die gewaltigen Arbeiten zur Umgestaltung der Erdoberfläche mittels Atomexplosionen zu bewerkstelligen. Die Wucht des Atoms sollte helfen, Schnee zu schmelzen, Erde zu bewegen, Kanäle auszuheben - und im Wortsinn Berge zu versetzen. Tatsächlich wurden nukleare Explosionen damals vielerorts und selbst in dichtbesiedelten Regionen eingesetzt, um die Machbarkeit des Gesaamtprojekts bei vergleichsweise geringen Kosten unter Beweis zu stellen." (1)

Die ökologischen Bedenken setzten früh ein, konnten aber wegen der repressiven Verhältnisse in der Sowjetdiktatur nicht publiziert werden. Als es dann aber in den 70er Jahren ernst wurde und der Baikalsee durch rücksichtslose industrielle Nutzung zu kippen drohte, entstand erstmals in der Sowjetunion so etwas wie eine grüne Bewegung. Denn der Baikalsee "ist der tiefste und mit über 30 Millionen Jahren älteste sowie an Wasservolumen größte See der Erde - er bedeckt eine Fläche von der Größe Belgiens. Er weist das reinste Wasser der Welt auf, verfügt über ein Fünftel der weltweiten Süßwasserreserven und ist ein einzigartiges Biotop mit zahlreichen Tierarten, die nirgendwo anders vorkommen." (2) Inzwischen ist er UNESCO-Weltnaturerbe.

Dass der Dawydow-Plan schließlich nicht zur Ausführung kam, ist mehreren Faktoren zu verdanken. Im Fall des Baikalsees konnte der Bau der schadstoffreichen und wasserintensiven Papier- und Zellulosefabriken "zwar nicht verhindert werden, doch hatten die Umweltschützer ihre Muskeln weithin sichtbar spielen lassen. Zum Anlass für einen größeren Zulauf zu dieser Bewegung geriet schließlich die politische Erstarrung und wirtschaftliche Stagnation der von einer Kreml-Gerontokratie (Herrschaft alter Männer) regierten Sowjetunion, die sich rückblickend betrachtet seit den Siebzigerjahren ihrem Zerfall entgegenschleppte." (3)

Den Stopp des Projektes verfügte schließlich im Jahre 1986 Michail Gorbatschow im Zuge seiner Perestroika- und Glasnost-Politik.

Quelle

(1) Bernd Ingmar Gutberlet, Grandios gescheitert - Misslungene Projekte der Menschheitsgeschichte, Lübbe-Verlag 2012, S. 291f  Alle Informationen dieses Anhangs stammen aus diesem Buch.
(2) ebd. S. 293
(3) ebd. S. 294