Beten - was bringt das?

Lieber Bernd,

ich muss schon sagen, ich bewundere Deine Ausdauer! Dies ist nun schon der 12. Brief, und wir haben uns offenbar immer noch etwas zu sagen. Mir macht es jedenfalls große Freude, gerade auch, weil Du so provozierend formulierst.

Also, das Gebet.

Da muss ich aus Deinem eigenen Brief zitieren: "Denn so viel habe ich inzwischen begriffen, dass sich der Glaube wohl erst allmählich entwickelt."

Sollte unser Austausch auch nur einen minimalen Beitrag zu dieser Erkenntnis geliefert haben, so hätte er sich schon gelohnt. Deine Bemerkung lässt sich ja mühelos auch auf das Beten anwenden.

Aber gehen wir systematisch vor.

Drei Dinge scheinen mir wichtig bei diesem Thema:

  1. Das vorformulierte Gebet
    Hier muss ich wieder mit einem kleinen Erlebnis beginnen. Wir hatten ein Ehepaar zum Essen eingeladen, das einer Freikirche angehört. Vor dem Essen beteten wir, das war für alle selbstverständlich. Aber der Herr äußerte sich befremdet, dass ich das Tischgebet aus unserer Gebetssammlung vorlas und es nicht frei formulierte, wie es in den Freikirchen üblich ist. So entwickelte sich eine kleine Diskussion über das Für und Wider des freien Gebets.
    Einerseits ist es natürlich persönlicher als ein vorformuliertes, es kann den jeweiligen Umständen angepasst werden. Andererseits, wenn man es ausschließlich pflegt, schmort man letztlich im eigenen Saft. Das Beste ist deshalb sicherlich das Sowohl als Auch. Denn um frei beten zu lernen, muss man sich Anregungen holen, und die erhält man durch gut formulierte Gebetsvorlagen.
    Vor allem als Jugendlicher sollte man sich meines Erachtens zunächst an solche Gebetsvorlagen halten. Um es ganz konkret zu machen: Natürlich sollte man nach dem Kommunionempfang freie Zwiesprache halten mit Christus und ihm vortragen, was man auf dem Herzen hat. Aber man sollte sie ergänzen durch ein Gebet aus dem Gotteslob, denn dort gibt es Texte von Theologen, die große Beter und Heilige waren. Ich nenne einige Beispiele:
    unter Nr. 8 - Gebete nach der Kommunion - von John Henry Newman und Thomas von Aquin.
    Von ihm stammt auch der wunderbare Text des Liedes "Gottheit tief verborgen" unter Nr. 497.
    Bereits ab Nr. 492 findet man Lieder zum Thema Eucharistie. Die Texte dieser Lieder kann man meditieren, sie sind schlicht, aber sehr tief, und sie helfen einem, beten zu lernen.
  2. Das dreifache Gebet
    In den Psalmen, der Sammlung von 150 Gebeten im AT, finden wir
    Bitt-, Dank- und Lobgebete

    Das Bittgebet steht in unserem eigenen Gebetsleben wohl meistens im Vordergrund.
    Es gibt immer etwas zu bitten, und das ist auch legitim. Jesus hat gesagt: Bittet, und ihr werdet empfangen. Wir sollen im Bitten nicht nachlassen wie der lästige Freund, der zu nachtschlafener Zeit um drei Brote bittet. Der andere hat zunächst keine Lust aufzustehen, aber da der Freund nicht nachlässt, gibt er schließlich nach (Lk 11,5ff). Wir dürfen also mit der Erlaubnis Jesu Gott lästig fallen - als Ausdruck des Vertrauens zu ihm.

    Das Dankgebet
    Das Problem ist nur, dass wir nach dem Erhalt des Erbetenen oft den Dank vergessen.
    Die Evangelien sind nicht an Psychologie interessiert und beschreiben nicht die Emotionen Jesu. Zu den wenigen Stellen, an denen das anders ist, gehört der Abschnitt von den zehn Aussätzigen (Lk 17,11ff). Sie flehen Jesus um Heilung an, er sagt ihnen, sie sollten sich den Priestern vorstellen, weil ein Aussätziger nur dann in die Gemeinschaft der Gesunden zurückkehren durfte, wenn die Priester die Heilung bestätigten. Auf dem Wege dorthin wurden sie rein, aber nur einer kam zurück, um sich zu bedanken. Zu ihm sagte Jesus: Sind nicht zehn rein geworden? Wo sind denn die Neun? Hat sich keiner gefunden, der umkehrte, um Gott die Ehre zu geben, als nur dieser Fremde? Hier spürt man deutlich die Enttäuschung Jesu.
    Ist es heute nicht genauso? Die Laborergebnisse sind zurück, und der Arzt teilt dem Patienten mit: "Der Verdacht hat sich nicht bestätigt!" Sagen wir dann ein gedankenloses "Gottseidank!" oder gehen wir hin und danken Gott?
    Wir sollten unsere Gedankenlosigkeit aufgeben und mit wachen Sinnen wahrnehmen, wofür wir alles danken können, und wir werden erstaunliche Entdeckungen machen. So wird Dankbarkeit zu einer Grundhaltung, deren Rückwirkung übrigens Zufriedenheit ist. An Geburtstagen, wenn es ans Gratulieren geht, ist es üblich geworden, mit den Worten zu schließen: und vor allem Gesundheit! Gesundheit ist ein sehr hohes Gut, natürlich, aber man sollte eigentlich wünschen: und vor allem Zufriedenheit. Sie ist nämlich ein wesentliches Fundament dessen, was man Glück nennt.

    Das Lobgebet
    Es ist wohl in der Praxis der meisten Betenden das seltenste. Das Lobgebet fällt dem Menschen wohl deshalb so schwer, weil man sich dafür ganz von seinen eigenen Interessen lösen muss. Man muss sozusagen von sich selbst weggehen und ganz auf Gott zugehen.
    Das schönste Lobgebet meines Lebens hörte ich aus dem Munde einer jungen Benediktinerin in Korsika, Soeur Bernadette. Sie nahm an einer Wanderung teil, bei der unsere Gruppe abends einen Berg bestieg, um am nächsten Morgen den Sonnenaufgang zu erleben. Wenn Du Dir die Gestalt der Insel auf einer Karte anschaust, wirst Du sehen, dass Korsika im Norden in eine lange Landzunge ausläuft, die aus einem einzigen Berggrat besteht. Wenn man von der einen Seite aus die Höhe erreicht, sieht man sozusagen zwei Meere: Du schaust nach Westen und siehst das Mittelmeer in Richtung Gibraltar, und Du schaust nach Osten und siehst das Mittelmeer in Richtung italienische Küste.
    Unser Nachtlager unter dem sternenbesäten südlichen Himmel war recht romantisch, wenn auch ziemlich unbequem. Den felsigen Boden hatten wir notdürftig mit Farnzweigen abgedeckt. Der Ort lag etwas unterhalb des Berggrates, wir standen früh auf und erreichten die Höhe nach einer Viertelstunde. Und dann begann das ersehnte Schauspiel: Aus den Fluten des Meeres erhob sich im Osten die Sonne in unbeschreiblichem Glanz. Und da hörte ich Soeur Bernadette sagen: "Dieu est grand!" Gott ist groß!
    Diese Worte beschämten mich. Mir war in diesem Augenblick nur eingefallen: großartig! grandios! aber mein Entzücken hatte sich nicht zu einem Gebet geformt.
    Ja, das war ein Lobgebet nach dem Herzen Gottes! Es war sozusagen die Kurzfassung von Psalm 8: Jahwe, unser Herr! Wie wunderbar ist auf der ganzen Erde dein Name!
    Schlag ihn mal auf und bete ihn, es ist einer der schönsten Psalmen!
  3. Das Stoßgebet
    Das Gebet der Schwester Bernadette bestand nur aus drei Worten, es war ein Stoßgebet. Und das ist eine Gebetsform, die sicher auch Jugendlichen zusagt. Sie ist in allen Lebenslagen anwendbar und hat außer der Kürze noch einen gewaltigen Vorteil: So wie man einen Regenmantel in die Reinigung gibt und imprägnieren lässt, damit der Regen daran abläuft, so imprägniert das Stoßgebet den ganzen Tag. Beim Aufstehen, im Bus, beim Anblick eines Unfalls, vor einer wichtigen Entscheidung, in einer gefährlichen Situation, vor einer Prüfung.
    Und damit komme ich zu Deinen Mathearbeiten. Ich finde, Deine Mutter hat völlig Recht, man sollte vor einer Klausur ein Stoßgebet beten. Allerdings fände ich es auch ein bisschen lächerlich, wenn nicht zwei Bedingungen erfüllt sind:
    Erstens, wenn man anschließend das Danken nicht vergisst.
    Und zweitens, wenn der Tag imprägniert ist vom Gebet, d.h. wenn wir alles, was uns begegnet, unter den Segen Gottes stellen.
    Dann ist es gar nicht mehr lächerlich, dann fügt es sich organisch ein in den Tageslauf, dann ist es ein Gebets-Baustein im Gebets-Bauwerk des Tages.

Nun geht Deine Frage aber, genau genommen, noch in eine andere Richtung, nämlich:

Bringt das Gebet überhaupt etwas? Bekomme ich deswegen eine bessere Note?

Was ich nun sage, wird Dich überraschen: Welche Note dabei herauskommt, ist völlig nebensächlich.

Nun höre ich schon Deinen Einwand: Ja, warum soll ich denn dann beten? Dann kann ich es ja auch lassen! Außerdem ist es keineswegs nebensächlich, ob ich eine Fünf schreibe. Wenn ich auch in Physik eine kriege, bleibe ich hängen!

Nun spielen wir die Sache mal ganz eisern durch: Sind die beiden Fünfen wirklich nur auf intellektuelles Unvermögen zurückzuführen, oder könnte es vielleicht sein, dass der Herr ein bisschen gebummelt hat nach dem Motto: Wird schon (nicht) schief gehen?

Im letzteren Fall, den ich bei Deinem IQ für den wahrscheinlicheren halte, lautet die Frage: Und wenn Du hängen bleibst? Ist das so schlimm? Du kannst doch eine Nachprüfung machen, und da sind die Aussichten gar nicht so schlecht, vorausgesetzt, Du setzt Dich in den Sommerferien ernsthaft hin und paukst.

Aber was ist, wenn auch die Nachprüfung nicht klappt?

Nun, könnte das Sitzenbleiben vielleicht eine Lehre sein, das Steuer herumzuwerfen?

Dieser letzte Ausdruck ist übrigens die "weltliche" Formulierung dessen, was die Hl. Schrift Buße bzw. Umkehr nennt.

Nein, ganz im Ernst: Wer von uns weiß schon, was wirklich für ihn gut ist? Unsere Bittgebete sind deshalb so unwirksam, weil wir zu stolz sind. Zu stolz zuzugeben, dass das, worum wir gerade bitten, vielleicht verkehrt sein könnte.

Jesus selbst hat uns gelehrt, wie wir beten sollen, und er wusste, woran es bei uns hapert.

Deshalb heißt die dritte Vaterunser-Bitte: Dein Wille geschehe! Und hier liegt der Ton auf "Dein".

Und er hat selbst so gebetet in einer Situation, als es um Leben und Tod ging. Du weißt schon, worauf ich anspiele: auf das Gebet am Ölberg am Abend vor seiner Passion.

Es ist ganz klar: Jesus wollte nicht sterben. Überleg mal, er war etwa dreißig Jahre alt, im besten Mannesalter. Seine öffentliche Wirksamkeit dauerte nur drei Jahre. Wie vielen Menschen hätte er noch helfen können durch seine Worte und seine Taten! Er hätte seine Bewegung über Israel hinaus ausdehnen können, er hätte das ganze römische Weltreich erfassen können. Stattdessen ließ er sich hinrichten auf die entsetzlichste Weise, die es damals gab. Die Kreuzigung ist eine Folter von perfider Perfektion. Hast Du mal was vom Grabtuch von Turin gehört? Lassen wir die Frage der Echtheit mal beiseite. Fakt ist, dass in diesem Tuch ein Mann gelegen hat, der gegeißelt und gekreuzigt wurde. Wenn man sich mit den medizinischen Einzelheiten befasst, kann einem schlecht werden, ich will das hier nicht ausmalen.

Um zum Thema zurückzukommen: Jesu Gebet am Ölberg lautete: Abba, Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen Kelch von mir! Aber nicht, wie ich will, sondern wie du willst! (Mk 14,36)

Dies bleibt für immer der Maßstab für das Gebet der Christen.

Hast Du mit Achmed vielleicht schon mal über den Kreuzestod Jesu gesprochen? Dann wirst Du erfahren haben, mit welcher Empörung die Muslime diese Glaubenslehre zurückweisen. Nach dem Koran, der ja für den Muslim Gottes unmittelbares Wort ist, hat Jesus nie den Kreuzestod erlitten. Diese Vorstellung ist für den Muslim gotteslästerlich.

Umgekehrt muss ich sagen: Ich finde es ganz phantastisch, was uns das Evangelium da berichtet. Das Kreuz ist doch die höchste Offenbarung der Liebe Gottes. Jesus sagt es selbst: Niemand hat eine größere Liebe, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde. (Joh 15,13)

Man kann ruhig hinzufügen: und für seine Feinde, denn Jesus ist für alle gestorben und hat uns sogar geboten, unsere Feinde zu lieben.

Um zum Gebet am Ölberg zurückzukommen: Es eröffnet uns auch einen Einblick in das innere Leben Gottes. Der Mensch Jesus, in dem sich alles dagegen sträubte, so früh und so grauenvoll zu sterben, dieser Mensch Jesus hob, wie Papst Benedikt XVI. in seiner Jesus-Trilogie sagt, seinen menschlichen Willen in den Willen Gottes hinein. Und in dieser vollkommenen Einheit mit dem Vater starb er.(1)

Aber - und hier nimmt nicht nur der Muslim schwersten Anstoß - wie verträgt sich damit der Schrei Jesu am Kreuz: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? (Mk 15.34)

So paradox es klingt, er bestätigt die völlige Einheit des Sohnes mit dem Vater. Den Emmaus-Jüngern sagt der Auferstandene: Musste der Messias nicht all das leiden, um so in seine Herrlichkeit einzugehen? (Lk 24,26)

Anders gesagt: Jesus nahm den Tod in vollkommenem Einverständnis mit dem Vater auf sich. Tod heißt hier aber viel mehr als physischer Tod. Tod ist in seiner tiefsten Dimension das völlige Getrenntsein von Gott. Musste der Messias nicht all das erleiden heißt also: Jesus musste auch die Gottferne durchschreiten, um die Gottferne der Menschen aufzuheben. Aber dann heißt es: um so in seine Herrlichkeit einzugehen. Also: genau so kehrte er zurück in die vollkommene Gemeinschaft mit dem Vater. "Kehrte er zurück" ist auch schon wieder falsch, denn er hatte sie nie verlassen, auch in dem Schrei am Kreuz nicht.

Entschuldige, wenn ich Dir hier vielleicht zu viel zugemutet habe. Aber der christliche Glaube ist nun einmal so tief, dass einem schwindelig werden kann. Ich jedenfalls habe mich intensiv mit den großen Weltreligionen beschäftigt und festgestellt: Eine solche Tiefe habe ich nirgends sonst gefunden. Der Skandal des Kreuzes ist religionsgeschichtlich einmalig. Zu behaupten, der historische Jesus von Nazareth sei Gottes Sohn gewesen, und gleichzeitig zu behaupten, dieser Sohn Gottes sei als Verbrecher hingerichtet worden, ist so paradox und ungeheuerlich, dass es entweder völlig pervers ist oder - wahr.

Aber ich will mich nicht drücken: Eine Frage Deines Briefes ist noch nicht beantwortet:

Für den Frieden in Kriegsgebieten zu beten - bringt das irgendetwas?

Ja natürlich bringt es etwas. Was erfahren wir denn von den Kriegsgebieten? Glaubst Du vielleicht im Ernst, die Berichterstattung in den Printmedien oder im Fernsehen oder wo auch immer würden uns einen auch nur halbwegs kompletten Eindruck von den Vorgängen geben? Bad news are good news, lautet der alte Grundsatz der Journalisten. Bis auf wenige spektakuläre Ausnahmen sind Berichte über Positives uninteressant.

Wie viel selbstloses Engagement in solchen Situationen bleibt unberichtet! Ich kennen nur eine einzige rühmliche Ausnahme: Florence Nightingale, der "Engel der Verlassenen". Ihr Engagement für die Verwundeten und Sterbenden im Krimkrieg (1863 bis 1866) ist weltbekannt geworden. Lies mal ihre Biographie, sie ist wirklich spannend. Übrigens hat sie nicht weit von Euch ihre entscheidenden Impulse erhalten: von Theodor Fliedner, dem Gründer der evangelischen Diakonie in Düsseldorf-Kaiserswerth.

Es gibt auch heute in den Krisengebieten der Erde zahllose Nightingales. Und sie im Gebet zu unterstützen, ist wahrhaft sinnvoll.

Deine Kritik an den Fürbitten ist aber z.T. auch berechtigt. Manchmal sind sie sehr unerleuchtet formuliert. Ich meine, man sollte immer für Menschen beten, nicht für Zustände, genauer: dafür, dass der Heilige Geist Menschen inspirieren möge, das Gute zu verwirklichen.

 

Herzliche Grüße

Dein Onkel Peter

 

Quelle

(1) Benedikt XVI.,Jesus von Nazareth, Band 2, Herder 2011, S. 183

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