Waren die Evangelisten naiv?

Lieber Bernd,

unsere Briefe scheinen sich ja allmählich zu einer regelrechten Korrespondenz auszuwachsen.

Ich finde es spannend, von Dir herausgefordert zu werden, und es ist erfrischend, wie ungeschminkt Du Deine Zweifel äußerst. Das belebt mich direkt.

Nun hast Du zwei Fragen gestellt, die ich unmöglich in einem einzigen Berief behandeln kann. Deshalb beginne ich mit der Glaubwürdigkeit der Bibel. Meine Argumente für die Existenz Gottes nenne ich Dir dann im nächsten Brief.

Also: Die Evangelisten sind unaufgeklärte Naivlinge. Und damit gerät die Glaubwürdigkeit der gesamten Bibel ins Wanken.

O je, mein Lieber, jetzt mach Dich auf etwas gefasst. Jetzt gehe ich nämlich zum Gegenangriff über. Und entschuldige, wenn ich dabei etwas grob werde. Das ist notwendig, um deutlich zu machen, was ich meine.

Du schreibst: Da hat die Aufklärung uns doch wesentlich weiter gebracht und folgst damit einer Meinung, die allgemein verbreitet ist. Was ist das aber für eine unerträgliche Ignoranz und Arroganz! Unsere Generation soll aufgeklärt sein? Dass ich nicht lache. Meine These ist: Sie ist bei der Aufklärung auf halbem Wege stecken geblieben. Sie hat von der Aufklärung bisher nur die Destruktion übernommen, aber die notwendige Ergänzung, die Konstruktion, die ist erst ganz am Anfang. Aber kommen wir zu den Argumenten, um die es Dir geht.

Zunächst einmal müssen wir etwas Klarheit in den Begriffen schaffen.

Habt Ihr im Religionsunterricht schon einmal über die form- bzw. gattungsgeschichtliche Methode gesprochen? Wir verdanken sie dem evangelischen Theologen Hermann Gunkel.

Sie besagt, dass eine sachgemäße Auslegung der Hl. Schrift zunächst einmal bestimmen muss, welcher Gattung die einzelne Perikope (Abschnitt) angehört. Nach der Art der Gattung bestimmt sich u.a. ihr historischer Gehalt.

So unterscheidet man z.B. Weltliche Lieder, Kultische Lieder (bei den Psalmen z.B. Klagelieder, Bitt- und Dankgebete), Nicht erzählende Prosa (z.B. Predigten, Verträge, Briefe), Erzählende Prosa (z.B. Mythen, Sagen, Legenden, Lehrerzählungen, Annalen, Geschichtsschreibung).

Im Einzelfall kann es umstritten sein, zu welcher Gattung eine Perikope gehört, aber grundsätzlich hat diese Methode uns weiter gebracht, denn so viel ist wohl Konsens:

  • Die Erzählung von Jona im Walfisch ist eine Lehrerzählung, eine wenn auch geniale, so doch frei erfundene Erzählung mit einem tiefen Sinn.
  • Die Berichte über die Regierungszeit von König David dagegen sind echte Geschichtsschreibung. Das sieht man schon daran, dass diese Erzählungen ausgesprochen "säkular" sind, also fast ohne theologische Deutungen auskommen. Es gab am Hofe Davids offenbar Annalisten, welche die Ereignisse festgehalten haben.
    Auch die Schriften der Propheten stehen im hellen Licht der Geschichte. Sie beziehen sich unmittelbar auf die politischen Verhältnisse ihrer Zeit und enthalten präzise Angaben über die zeitgenössischen Könige Israels und ihre Regierungszeit.

Damit sind wir der Antwort allerdings nur ein kleines Stückchen näher gekommen, denn es bleibt ja die Frage: Zu welcher Gattung gehören nun die Evangelien - Lehrerzählung oder Geschichtsschreibung?

Meinen Standpunkt kennst Du: Die Evangelien sind keine erfundene Lehrerzählung, sondern geben reale Vorgänge wieder. Und meine Argumente sind die folgenden:

  1.  Jesus hatte verbissene Gegner: die Pharisäer und die Sadduzäer. Die Gründe für ihre Ablehnung waren verschieden.
    Die Pharisäer stießen sich an dem Anspruch Jesu, weil er sich offenbar an die Stelle Gottes setzte, z.B. in seiner Haltung gegenüber den Sabbatgeboten (Der Menschensohn ist Herr auch über den Sabbat. Mk 2,28) und Reinheitsgeboten (Nichts, was von außen in den Menschen hineinkommt, macht ihn unrein. Mk 7,15), aber auch in der Sammlung einer auf seine Person zentrierten Gemeinde.
    Die Sadduzäer stießen sich an seinem nach ihrem Verständnis aggressiven Verhalten gegenüber dem Tempel, ihrem Machtbereich (Tempelreinigung; Prophetie von der Zerstörung des Tempels. Mk 13.1f).
    Nun ist es interessant zu sehen, dass die Gegner Jesu seine Machttaten nicht leugneten. Das hätte ja nahe gelegen. Aber sie konnten sie nicht leugnen. Warum? Weil sie wirklich passiert waren. So taten sie das Einzige, was ihnen blieb: Sie behaupteten, Jesus stehe mit dem Satan im Bunde. Mit Beelzebul, dem Obersten der Dämonen, treibt er die Dämonen aus. (Mk 3,22)
    ERGEBNIS: Jesus muss aufsehenerregende Machttaten vollbracht haben. Ihre Faktizität wird auch von seinen Gegnern nicht geleugnet.
  2. Der erste Satz des 1. Johannesbriefes lautet:
    Was von Anfang an war, was wir gehört haben, was wir mit unseren Augen gesehen, was wir geschaut und was unsere Hände betastet haben, das verkünden wir: das Wort des Lebens….Was wir gesehen und gehört haben, das verkünden wir auch euch, damit auch ihr Gemeinschaft mit uns habt.
    Und im Ersten Petrusbrief heißt es: Denn wir sind nicht irgendwelchen klug ausgedachten Geschichten gefolgt (Lehrerzählungen!), als wir euch die machtvolle Ankunft Jesu Christi, unseres Herrn, verkündeten, sondern wir waren Augenzeugen seiner Macht und Größe.
    Er hat von Gott, dem Vater, Ehre und Herrlichkeit empfangen; denn er hörte die Stimme der erhabenen Herrlichkeit, die zu ihm sprach: Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe.
    Diese Stimme, die vom Himmel kam, haben wir gehört, als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren. Dadurch ist das Wort der Propheten für uns noch sicherer geworden, und ihr tut gut daran, es zu beachten. (1 Petr 1,16-19)
    Petrus spricht hier von der Verklärung Jesu (Mt 17,1ff), und ich finde es ausgesprochen traurig, dass sogar manche Theologen der ausdrücklichen Beteuerung des Petrus nicht glauben und die Verklärung Jesu als nachösterliche Erfindung der Urgemeinde bezeichnen.
    ERGEBNIS: Johannes und Petrus bezeugen ausdrücklich, dass sie mit eigenen Augen und Ohren erlebt haben, was sie im Evangelium beschreiben.

Aber damit ist Deine Frage immer noch nicht beantwortet. Denn man könnte ja sagen: Gut und schön, das beweist, dass die Apostel subjektiv von der Faktizität der Vorgänge, in diesem Fall der Verklärung Jesu, überzeugt waren.

Aber sie waren doch Menschen ihrer Zeit, sie teilten das Denken ihrer Zeit, und das war eben noch unaufgeklärt, naiv, kindlich. Sie wollten nicht betrügen, aber sie deuteten die Ereignisse aus ihrem begrenzten Horizont. Wir sind heute weiter.

So, nun aber wirklich zu den Argumenten: Was beweist uns, dass die Apostel und ihre Zeit nicht naiv waren?

  1. Kannst Du Dir unter dem Begriff "Hellenismus" etwas vorstellen? Es ist die Zeit, in der sich griechisches Denken und griechische Kultur über die gesamte damalige Welt ausbreiteten. Politisch wurde das möglich durch das Weltreich Alexanders des Großen. In diesem Weltreich und den daraus entstehenden Diadochenstaaten vermischten sich griechische und orientalische Elemente.
    Auch das Land Jesu wurde davon erfasst, und was nun für unseren Zusammenhang wichtig ist: Das Griechentum hatte bereits im 5. Jhdt. vor Christus eine radikale Aufklärung durchgemacht, die u.a. die Skepsis und den antiken Atheismus der Sophisten und des Römers Lukrez hervorbrachte.
    Damals bildete sich eine Schicht heraus, die wir heute "die Intellektuellen" nennen würden. Sie blickten auf den naiven Götter- und Wunderglauben des gemeinen Volkes mitleidig, aber tolerant herab. Paulus hat das ganz drastisch erfahren nach seiner Rede vor den Philosophen am Areopag in Athen, seine größte Niederlage. Lies es mal nach: Apg 17.
    Die jüdische Führungsschicht fühlte sich ebenso erhaben über die Wundergläubigkeit bzw. den Personenkult des gemeinen Volk wie die griechischen Philosophen: Als die Gerichtsdiener (die Jesus ausspionieren sollten) zu den Hohenpriestern und Pharisäern zurückkamen, fragten diese: Warum habt ihr ihn nicht hergebracht?
    Die Gerichtsdiener antworteten: Noch nie hat ein Mensch so gesprochen. Da entgegneten ihnen die Pharisäer: Habt auch ihr euch in die Irre führen lassen? Ist etwa einer vom Hohen Rat oder von den Pharisäern zum Glauben an ihn gekommen? Dieses Volk jedoch, das vom Gesetz nichts versteht, verflucht ist es! (Joh 7,45-49)
    Es ist also völlig unsachgemäß, die Menschen der damaligen Zeit unterschiedslos für wundergläubige Naivlinge zu halten.

  2. Das Spannende ist nun, dass wir diese aufgeklärte Skepsis auch in den Evangelien finden. Das Musterbeispiel ist der Apostel Thomas. Als die anderen Jünger ihm von der Erscheinung des Auferstandenen erzählen, bei der er abwesend war, sagte er, frei übersetzt: Leute, seid doch nicht so leichtgläubig! Ich fürchte, ihr seid Opfer einer Massensuggestion geworden. Wenn ich nicht die Male der Nägel an seinen Händen sehe und meine Finger in die Male der Nägel und meine Hand in seine Seite lege, glaube ich nicht. (Joh 20,25)
    Es genügte ihm also nicht, Jesus zu sehen, er wollte ihn anfassen, ihn materiell spüren, ihn be-greifen. Thomas war ein moderner Skeptiker: Er ließ sich nur durch harte, nachprüfbare Fakten beeindrucken. Ist das naiver Wunderglaube?

  3. Als die Jünger auf dem See Genezareth Jesus über das Wasser auf sich zukommen sahen, sagten sie nicht erfreut wie Tünnes und Schäl: Super, schon widder e Wunder! Sondern sie wurden von Entsetzen erfüllt, weil sie meinten, es sei ein Gespenst, und sie schrieen vor Angst. (Mt 14,26) Warum meinten sie denn, es sei ein Gespenst? Weil sie genau wie wir dachten: Kein Mensch kann übers Wasser gehen! Ist das naiver Wunderglaube?

  4. Als die Frauen vom Grabe kommen und den Jüngern erzählen: Wir haben den Herrn gesehen, er ist auferstanden, da heißt es: Doch die Apostel hielten das für Geschwätz und glaubten ihnen nicht. Richtig: Das sagten sie in erster Linie, weil die Informanten "nur" Frauen waren, aber Vorsicht: Petrus läuft dann zum Grab: Er beugte sich vor, sah aber nur die Leinenbinden. Dann ging er nach Hause, voll Verwunderung über das, was geschehen war. (Lk 24,11f) D.h., selbst jetzt war er noch nicht voll überzeugt. Ist das naiver Wunderglaube?

  5. Die größte Abneigung gegen oberflächliche Wundergläubigkeit aber hatte Jesus selbst. Als die 12-jährige Tochter des Jairus gestorben war und die Klagefrauen bereits ihr Ritual vollzogen, sagte Jesus zu ihnen: Warum schreit und weint ihr? Das Kind ist nicht tot, es schläft nur. Da lachten sie ihn aus. (Mk 5,39f)
    Wäre es nicht eindrucksvoller gewesen, wenn er gesagt hätte: Passt mal auf, Leute, was ich jetzt mache! Das Kind ist zwar tot, aber ich mache es wieder lebendig!
    Was tut Jesus hier? Er nutzt die Wundergläubigkeit des einfachen Volkes gerade nicht aus, er gibt ihr keine Nahrung. Denn er will keine Show abziehen, sondern helfen.

  6. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bemerkung des Evangelisten Johannes: Während er nun zum Pas-chafest in Jerusalem weilte, glaubten viele an ihn und schlossen sich ihm an, denn sie sahen die großen Zeichen, die er tat. Jesus selbst allerdings verließ sich nicht auf sie, denn er durchschaute sie alle. Er brauchte niemanden, der ihm Auskunft über den Menschen gab, denn er sah klar, was im Menschen verborgen war. (Joh 2,23-25) Hier sind sie also gemeint, die Leichtgläubigen, die es natürlich damals auch gab. Ihm geht es nicht um einen oberflächlichen Wunderglauben. Wunder nützen gar nichts, wenn man bei ihnen stehen bleibt. Sie sind ein erster Anstoß zum Nachdenken über das Persongeheimnis Jesu.

  7. Mein letztes Argument bezieht sich auf die Tatsache, dass die Evangelisten klar unterscheiden zwischen Geschichte und Gleichnis, also ausgedachter Geschichte.
    Nimm z.B. Lk 15,11-32, das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Zu Beginn des Kapitels heißt es: Da erzählte er ihnen ein Gleichnis und sagte…, und nun folgen drei Gleichnisse, die alle dieselbe Aussage haben: Gott gibt niemanden verloren, im Gegenteil: Im Himmel herrscht Freude über einen einzigen Sünder, der zurückkehrt.
    Wer je versucht hat, sich ein Gleichnis auszudenken, weiß, wie schwer das ist und wie genial die Gleichnisse Jesu sind. Aber die Evangelisten bezeichnen sie auch als solche und unterscheiden sie von den Taten Jesu. Damit beweisen sie aber, dass sie keineswegs naiv sind.

So, ich habe den Eindruck, wir können das Thema Schriftlesung abschließen, oder? Mein Anliegen ist jedenfalls: Lass Dich nicht verwirren! Halte Dir immer vor Augen, worum es bei der Schriftlesung eigentlich geht: Jesus Christus will durch das Wort der Schrift zu Dir, zu Dir persönlich sprechen.

 

Herzliche Grüße

Dein Onkel Peter

Zurück an den Briefanfang