Warum lässt Gott behindertes Leben zu?

Lieber Bernd,

Deine Frage ist eine große Herausforderung.

Und ich muss Dir gleich zu Beginn sagen: Erwarte nicht zu viel von mir! Weder habe ich Sonderpädagogik  studiert,noch haben wir eigene Erfahrungen mit einem behinderten Kind.

Dennoch will ich versuchen, Deine Frage so gut wie möglich zu beantworten. Ich habe diesen Brief Eltern von behinderten Kindern zur Korrektur vorgelegt und hoffe, wenigstens auf diese Weise nicht völlig fehlzugehen.

Statt nun einen theologischen Traktat zu verfassen, möchte ich lieber mit einem kleinen Erlebnis beginnen.

Du warst ja letztes Jahr in Edinburgh und kannst Dir den Vorplatz der Burg vorstellen, auf dem jedes Jahr das Military Tattoo stattfindet.

Dort saßen wir, etwas erschöpft von der Besichtigung, und schauten uns das Leben auf dem Platz an. Rechts von uns befand sich ein Taxistand, und dorthin stellte sich eine Familie - Vater und Mutter mit einem behinderten Kind in einem Rollstuhl. Das Mädchen war etwa 12 Jahre alt und schwerstbehindert. Meine Frau, also Deine Tante, versuchte, Augenkontakt mit ihr herzustellen und lächelte ihr zu. Sie tat das mit einer Geduld, die ich nicht aufgebracht hätte, denn es kam zunächst keine Reaktion zurück. Erst nach Minuten schien das Kind den Blick wahrzunehmen, seine Miene veränderte sich kaum merklich, und nach weiteren Minuten lächelte es.

Ich beobachtete in dieser ganzen Zeit die Eltern. Der Vater bemühte sich offensichtlich, ein Spezialfahrzeug für den Rollstuhl zu bekommen, es schien Schwierigkeiten zu geben. Währenddessen wendete sich die Mutter immer wieder ihrem Kind zu. Ich versuchte, den Eindruck zu vermeiden, als würde ich sie beobachten, und ich glaube, dass es mir gelang. Aber es faszinierte mich, wie diese Frau mit ihrem Kind umging. Ja, ich könnte fast ins Schwärmen geraten über die Geduld, die Natürlichkeit, schlicht - über die Liebe, die sie ihrem Kind zuwendete. Und ich fragte mich, ob ich das könnte.

Schließlich kam ein Spezialwagen und die Familie konnte einsteigen. Bevor sie das tat, ging ich zu der Mutter hin und sagte ihr nur den einen Satz: "Ich bewundere Sie!" Sie schaute mich an, lächelte und verschwand im Auto.

Nun liegt es mir fern, das Leben einer Familie mit einem behinderten Kind zu idealisieren. Mit Sicherheit hat es Höhen und Tiefen, die eine größere Amplitude haben als in einer nichtbehinderten Familie. Eine Mutter schrieb mir: "Man hat endlos viel Arbeit, kommt physisch und psychisch an seine Grenzen: Immer zu wenig Schlaf, körperlich anstrengende Pflege, immer wieder Behördenkrempel, man muss wie bei einem Säugling 24 Stunden mitdenken."

Wir kennen zwei Familien, die ein behindertes Kind haben. Beide Elternpaare haben die Situation angenommen aus christlicher Überzeugung. Aber gerät ihr Glaube nicht ins Wanken durch die Prüfung, die ihnen auferlegt ist? Die eben zitierte Mutter schreibt: "Man darf ruhig mit Gott schimpfen und ihn fragen: Was hast du dir dabei gedacht? Wenn er antwortet, sagt er vielleicht: Ich wusste, wem ich ein solches Kind anvertrauen kann. Vielleicht gibt das Trost. Aber dieser Satz birgt auch die Aufforderung: Lass dich nicht hängen und mach das Beste daraus!"

In einem anderen Brief heißt es:

"Auch wir haben uns zunächst gefragt: Warum? Und irgendwann haben wir begriffen, dass diese Frage falsch gestellt ist, denn sie ist letztlich unbeantwortbar. Daraufhin haben wir nur noch gefragt: Wozu? Und diese Frage ist beantwortbar, wenigstens ansatzweise. Eine Teil-Antwort lautet: Um unsere Liebesfähigkeit zu entwickeln."

Dazu passt das folgende Zitat:

"Diese Kinder zeigen einem ganz deutlich, dass nicht die körperliche Unversehrtheit, nicht Intelligenz, gute Schulnoten, Karriere, Geld und Gut das Wichtigste im Leben eines Menschen sind, sondern die Liebe der Menschen zueinander. Diese Kinder bedürfen der Liebe und Zuwendung ihrer Mitmenschen und fordern sie ganz besonders heraus."

Ich habe gewaltigen Respekt vor solchen Eltern. Sie verwirklichen, was eigentlich das Markenzeichen aller Christen sein sollte: die christliche Hoffnung.

Diese Hoffnung ist nur dem gläubigen Menschen möglich. Und sie ist im Unterschied zu allen irdischen Hoffnungen unzerstörbar. Zitat: "Und da kommt unsere Hoffnung und unser Vertrauen ins Spiel: Spätestens im Himmel ist unsere Tochter gesund und munter (wie wunderbar!), aber vielleicht auch schon vorher, per Wunder. Warum auch nicht.

Wie Eltern eines behinderten Kindes das alles ohne Gott bewältigen, ist mir schleierhaft. Ich selbst wäre wahrscheinlich gescheitert: Als Evolutionsgläubige wäre behindertes Leben für mich lebensunwertes Leben gewesen. Was bin ich froh, dass mich Gott zuerst gefunden hat, bevor wir unsere Tochter bekamen."

Ich erinnere mich an eine Religionsstunde in der Oberstufe, in der ich versuchte, diese Hoffnung zu charakterisieren und alle irdischen Hoffnungen als Vor- oder Teilformen der christlichen Hoffnung zu definieren. Eine Schülerin widersprach mir vehement und vertrat den Standpunkt, es gebe in dieser Welt so viele Hoffnungen, die ein ganzes Leben ausfüllen können, dass es der christlichen Hoffnung nicht bedürfe. Für sie persönlich war es die Beschäftigung mit der Literatur. Sie meinte, damit käme man ein Leben lang nicht ans Ende.

Die Argumente gingen hin und her, die Diskussion wurde aber bald unfruchtbar, und ich habe dann einfach von Dietrich Bonhoeffer erzählt, der wegen seines Widerstandes gegen Hitler zum Tode verurteilt wurde. In den letzten Wochen vor seiner Hinrichtung sagte einmal ein Mitgefangener zu ihm: "Wir verstehen überhaupt nicht, warum Du so ausgeglichen und gefasst bist. Wie machst Du das?" Bonhoeffer schreibt dann weiter: "Wenn sie wüssten, wie es in mir aussieht! Und dennoch ist es wohl die Hoffnung, die ihnen fehlt."

In solchen Extremsituationen trägt keine innerweltliche Hoffnung mehr, sondern nur eine, die ihre Basis außerhalb dieser Welt hat.

Vielleicht ist Dir schon einmal aufgefallen, dass in den Gebeten zum Hl. Geist immer wieder das Wort "Tröster" vorkommt:

Komm Tröster, der die Herzen lenkt,
Du Beistand, den der Vater schenkt!

Der Trost, der hier gemeint ist, ist nichts anderes als die Hoffnung, die von nirgendwo anders her kommen kann als vom Heiligen Geist.

Nun muss ich aber noch eine kleine Geschichte anfügen.

An unserer Schule gibt es eine soziale Aktion, bei der viele Kolleginnen und Kollegen mitmachen. Ich selbst war zuständig für den Besuchsdienst bei älteren Menschen.

Was ich da an Einsatz von Schülerinnen (es war eine reine Mädchenschule) erlebt habe, hat mir mein ganzes Lehrerleben lang über alle Enttäuschungen hinweggeholfen.

Eines Tages bekam ich einen Anruf, der mich ratlos machte. Dieses Mal war es keine Adresse einer alten, alleinstehenden Dame wie gewöhnlich, sondern es ging um eine etwa vierzigjährige Dame, die taubstumm und blind war.

Ich sagte der Anruferin, das sei nun wirklich eine Überforderung für meine Schülerinnen.

Am nächsten Tag hatte ich Religion in einer 10. Klasse. Obwohl ich es eigentlich nicht für sinnvoll hielt, erzählte ich von dem Anruf, und es meldete sich tatsächlich eine Schülerin und sagte: Ich bin bereit, den Besuchsdienst zu übernehmen.

Machen wir es kurz: Es wurde daraus eine Freundschaft, die jahrelang gehalten hat. Marion hatte innerhalb kurzer Zeit die einzige Kommunikationsform erlernt, die möglich war: Sie schrieb ihrer Freundin in die Hand.

Ein Beispiel habe ich behalten: Die beiden machten einen Spaziergang durch den Stadtwald und Marion erklärte ihr die verschiedenen Bäume, indem sie sie die Stämme und Rinden spüren ließ.

Warum erzähle ich das? Weil Marion mir sagte, dieses Tasten habe ihrer Freundin eine ganz außergewöhnliche Freude bereitet. Freude an der Schöpfung - wir kommen hier erneut mit dem Wirken des Heiligen Geistes in Berührung. Du kennst bestimmt das Lied, das so beginnt:

Komm, Schöpfer Geist, kehr bei uns ein!

Viele Christen verstehen das Wort Schöpfer nicht ganz richtig. Es besagt, dass Gott die Welt nicht nur erschaffen hat, sondern dass er sie auch erhält.

Frag mal Deinen Freund Achmed. Wenn er seine Religion so gut kennt, wie Du sagst, dann weiß er vielleicht auch, dass die islamische Theologie diesen Gedanken in einer ganz überraschenden Weise entfaltet hat. Sie sagt nämlich, es gebe gar keine Naturgesetze. Was wir Naturgesetze nennen, sei in Wirklichkeit das ständige, sekündliche Schöpferwirken Gottes. Und nur weil Gott sich in der Regel an einen einmal eingeschlagenen Weg halte, komme es uns so vor, als laufe die Natur nach Gesetzen ab.

Diese Theorie finde ich hochinteressant, auch weil sie einen neuen Zugang zum Verständnis des Wunders eröffnet. Aber das ist jetzt nicht unser Thema. Wichtig ist mir zu erkennen, dass der Schöpfer auch der Erhalter der Welt ist.

Wer die Welt mit diesen Augen sieht, begreift erst, was "Erhaltung der Schöpfung" eigentlich bedeutet.

Es ist das Verdienst der Grünen, auf die Zerstörung der Natur aufmerksam gemacht und die Gewissen wachgerüttelt zu haben. Leider ist ihr Naturbegriff rein innerweltlich, sie leiten die Verpflichtung zum Schutz der Natur nicht aus dem Schöpfungsauftrag ab. Wie dem auch sei, wir können und müssen zusammenarbeiten, das wird jeden Tag offensichtlicher. Und die Christen müssten sich noch viel stärker engagieren. Es müssen ja nicht unbedingt spektakuläre Aktionen wie die von Greenpeace sein, es fängt schon damit an, dass wir im Stadtwald keine Chipstüten liegen lassen.

Am Fernsehen gibt es wunderschöne Reportagen über die Natur. Ich finde es immer schade, dass sie rein deskriptiv, also beschreibend sind. Aber wer einen religiösen Hintergrund hat, der kommt doch immer wieder ins Staunen über die Phantasie des Schöpfergeistes. Zum Beispiel frage ich mich, warum der Specht keine Kopfschmerzen bekommt. Wenn ich mir vorstelle, ich würde derart mit dem Kopf gegen einen Baum hämmern?

Aber im Ernst: Die Natur führt einen gläubigen Menschen doch immer mehr zum Staunen, je mehr wir in ihre Geheimnisse eindringen.

Denn obwohl wir in der Erforschung der Natur inzwischen so weit vorangekommen sind, dass Menschen ins Weltall fliegen können, die Doppelhelix weitgehend entschlüsselt ist, viele Krankheiten, die früher tödlich waren, besiegt sind, scheint es trotzdem, als gäbe es weiterhin mehr offene als beantwortete Fragen. Das gilt für so einfache Dinge wie die Entstehung eines Blitzes - sie ist den Forschern immer noch nicht klar. Neuerdings gibt es die abenteuerliche These, Blitze würden von den schwarzen Löchern im Weltall ausgelöst.

Oder das Herz. Um ein virtuelles Herz nachzubauen, braucht man 10.000 Prozessoren, da reicht ein normaler Computer nicht. 2000 Prozessoren müssen 1 ½ Stunden arbeiten, um einen einzigen Herzschlag zu simulieren. Und weißt Du, wie viele km lang unsere Blutbahnen sind, wenn man sie hintereinander legen würde? Von Berlin bis Köln? Von Berlin bis New York? Einmal um die Welt? Nein, zweieinhalb mal um die Welt, nämlich 100.000 km.

Die Phantasie des Schöpfers ist faszinierend. Ich weiß nicht, ob Du mit Blumen etwas anfangen kannst, vielleicht sind die folgenden Beispiele für Deine Freundin eindrucksvoller. Aber nimm Dir doch trotzdem mal im Frühling die Zeit, einen blühenden Kirschbaum zu betrachten! Nicht einfach nur hinsehen, sondern sich hinsetzen und wirklich betrachten!

Wie findest Du den Duft des Lavendels? Ich meine nicht die Seife, sondern das Original in der Natur. Wenn wir im Sommer durch die nahen Schrebergärten gehen, streiche ich gern mal über einen Busch des blühenden Lavendel. Der Duft haftet für einige Zeit an der Hand, so hat man länger etwas davon. Zugegeben, die Provence ist vom Studium her mein Urerlebnis, aber ich glaube, auch ohne diese Erfahrung ist der Duft einzigartig.

Was ich aber am erstaunlichsten finde: Außer Blüten und Duft hat der Schöpfer vielen Blumen zusätzlich die Kraft gegeben, den Menschen bei Krankheiten zu helfen oder sogar sie zu heilen.

Wenn Du mal Kopfschmerzen hast, reib Deine Schläfen mit Pfefferminzöl ein, das hilft wirklich! Trink Basilikum-Tee, wenn Du depressiv bist, er heitert das Gemüt auf und verursacht Appetit. Und Kamillentee hilft bei Magen- und Darmbeschwerden.

Und im Tierreich? Neulich erzählte mir ein Hundebesitzer, kleine Dackel hätten im Nacken eine Speckfalte, damit die Dackelmutter das Kleine mit dem Maul besser greifen kann. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber dem Schöpfer traue ich auch das zu.

Zum Schluss noch eine kleine Geschichte.

Wir kennen einen Heilpraktiker, der uns schon in mancherlei Beschwerden geholfen hat. Er behauptet, die Brennnessel habe ihm das Leben gerettet. Am Ende des 2. Weltkriegs geriet er in englische Gefangenschaft. Offenbar hegte der Lagerkommandeur einen tiefen Hass gegen alle Deutschen, jedenfalls stellte er den Gefangenen weder Zelte noch Baracken zur Verfügung, sie mussten bei Wind und Wetter draußen auf einer Wiese kampieren. Drei Wochen lang bekamen sie nichts, aber auch gar nichts zu essen.

Um nicht zu verhungern, begannen die Soldaten, Brennnesseln zu sammeln und aus den Blättern mit Wasser einen Sud zu bereiten. Bald nahmen sie die Stängel dazu, weil sie herausfanden, dass so der Sud noch wirksamer war. Von diesem Getränk lebten sie drei Wochen lang - alle überlebten.

Er hat diese Geschichte mehrmals erzählt, ich zweifle nicht an ihrer Wahrheit. Denn er verehrte die Brennnessel fast kultisch und behauptete, sie enthalte Heilkräfte für 72 Krankheiten.

So, das war es für heute.

 

Herzliche Grüße

Dein Onkel Peter

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