Gibt es heute noch Wunder?

Lieber Bernd,

ob man der Ansicht ist, dass es heute noch Wunder gibt, hängt von zwei Dingen ab:

  1. was man unter Wundern versteht, und
  2. ob man bereit ist, bestimmte Ereignisse als Wunder anzuerkennen.

Zum ersten Punkt:

Da Du von Lourdes sprichst, meinst Du offenbar Wunder im Sinne von spektakulär, außergewöhnlich, unerklärlich.

Ich finde allerdings die "alltäglichen" Wunder genau so spannend. Doch dazu später (Brief 17).

Zum zweiten Punkt:

Schon Jesus konnte durch seine Wunder nicht alle überzeugen, darunter vor allem die Theologen.

Alles hängt von der Vor-Einstellung ab:

Wenn man ein Wunder anerkennen will, folgt man der Logik: Wenn Gott existiert, sind Wunder selbstverständlich.

Wenn man ein Wunder nicht anerkennen will, dann findet man immer Erklärungen, um den übernatürlichen Charakter zu bestreiten.

Zunächst einige nüchterne Zahlen und Fakten(1):

Jährlich kommen etwa 50.000 Kranke nach Lourdes. Genau dokumentiert sind dabei nur die Kranken, die im Hospital "Notre Dame de Lourdes" untergebracht werden. Nicht erfasst sind also alle Kranken, die allein oder mit einer Pilgergruppe kommen und in einem Hotel untergebracht werden.

Wie viele Heilungen pro Jahr geschehen, weiß niemand, denn längst nicht alle Geheilten melden sich im Pilgerbüro.

Die Zahl der gemeldeten Heilungen beträgt pro Jahr um die 30. Dabei handelt es sich um Heilungen unter außergewöhnlichen Umständen, aber selbst in diesen Fällen melden sich nicht alle Betroffenen. Das ist verständlich, denn nicht jeder ist bereit, seine Leiden öffentlich zu machen.

Die Statistik verzeichnet seit Beginn der Wallfahrten (1858) 7000 gemeldete außergewöhnliche Heilungen, davon wurden ärztlicherseits 1.300 als unerklärlich bezeichnet. Die Kirche aber ist viel vorsichtiger als die Ärzte: Sie hat bisher nur 67 Fälle als Wunder anerkannt.

Und damit sind wir bei der Besonderheit von Lourdes: Lourdes ist der einzige Ort der Welt, an dem Wunder wissenschaftlich untersucht werden. Das geschieht in folgenden Schritten:

  1. Das Ärztebüro in Lourdes (BCM = Bureau des Constatations Médicales)
    Wenn ein Geheilter seine Heilung melden möchte, wendet er sich an das Ärztebüro in Lourdes. Ständige Mitglieder sind der Präsident des Ärztebüros sowie Fachärzte aus Lourdes. Der diensthabende Arzt untersucht den Kranken, prüft die Befunde, die der Kranke mitgebracht hat, und fragt nach den Umständen der Heilung.
    Alle Ärzte, die sich gerade als Pilger oder als Begleiter von Krankentransporten in Lourdes aufhalten, sind eingeladen, an diesen Untersuchungen teilzunehmen. Davon machen etwa 1.500 Ärzte pro Jahr Gebrauch, darunter nicht wenige atheistische, aber in Frankreich ist es nicht ehrenrührig wie bei uns, sich für die Heilungen in Lourdes zu interessieren.
    Zusammen mit ihnen berät der residierende Arzt, ob eine Heilung vorliegt, d.h. konkret, ob folgende Bedingungen erfüllt sind:
    • Liegt ein schweres körperliches Leiden vor?
    • Hat die Heilung sich innerhalb kürzester Zeit vollzogen?
    • Liegen Befunde vor, die es möglich machen, den Zustand des Kranken vor der Heilung zu beurteilen? Gerade diese letzte Bedingung dürfte dafür verantwortlich sein, dass viele Heilungen überhaupt nicht gemeldet werden, denn wenn die Akten unvollständig sind, wird der Fall vom Ärztebüro gar nicht weiter verfolgt.
  2. Das Internationale Medizinische Komitee (CI = Comité International)
    Wenn sich nach gründlicher Untersuchung mindestens drei Viertel der im BCM anwesenden Ärzte für die Unerklärbarkeit der Heilung aussprechen, wird die Akte weitergeleitet an das Internationale Ärztekomitee, dessen Aufgabe es ist, nochmals eine kritische wissenschaftliche Prüfung der Unterlagen vorzunehmen.
    Die Mitglieder - etwa 30 an der Zahl - kommen aus ganz Europa. Darunter sind Professoren, Privatdozenten und Fachärzte von Universitätskliniken.
    Das CI tagt einmal im Jahr, in der Regel in Paris. Dabei werden neu gemeldete Fälle an die entsprechenden Fachärzte gegeben, welche die Akten mit nach Hause nehmen und eingehend studieren. Im darauffolgenden Jahr legen sie ihr Ergebnis dem Kollegium vor. Dann wird über jeden Fall etwa eine Stunde diskutiert. Am Schluss erfolgt entweder die Annahme oder die Verwerfung oder eine Vertagung des Falles.
  3. Die kanonische Kommission (KK)
    BCM und CI sprechen niemals von Wundern. Die Formel bei Annahme lautet: mit den gegenwärtigen Erkenntnissen der Medizin nicht erklärbar.
    Die Anerkennung als Wunder ist Sache der Kirche. Die Kanonischen Kommission wird vom Bischof der Diözese einberufen, in welcher der Geheilte seinen Wohnsitz hat.
    Die Kriterien, nach denen die KK entscheidet, hat Papst Benedikt XIV. im 18. Jahrhundert festgelegt:
    • Die Krankheit muss unheilbar oder sehr schwer heilbar sein.
    • Es darf keine Besserung vorausgegangen sein.
    • Die bisherige Behandlung muss unwirksam gewesen sein.
    • Die Heilung muss ohne Anwendung von Medikamenten erfolgt sein.
    • Sie muss plötzlich oder in sehr kurzer Zeit zustande gekommen sein.
    • Sie muss vollständig sein.
    • Sie muss endgültig sein, d.h. es darf kein Rückfall erfolgen.
    Über diese eher medizinischen Kriterien hinaus geht es der Kirche aber insbesondere um die moralische und religiöse Glaubwürdigkeit des Geheilten, d.h. wenn erkennbar ist, dass der Geheilte sich mit der Heilung in den Vordergrund spielen will oder Symptome religiöser Überspanntheit zeigt, wird der Bischof davon absehen, die Heilung als Wunder anzuerkennen.

In der Anlage habe ich die Dokumentation einer außergewöhnlichen Heilung wiedergegeben. Diese hatte ich einmal in einem Kreis von Akademikern vorgetragen, unter ihnen zwei Ärzte. Zu meiner Überraschung zeigten sich die Anwesenden keineswegs beeindruckt. Ihre Kommentare enthielten die üblichen Argumente:

  • Spontanheilungen sind auch in nichtreligiösem Kontext bezeugt.
  • Möglicherweise war die Diagnose fehlerhaft.
  • Die Atmosphäre in Lourdes ist bei Krankensegnungen derart emotional aufgeladen, dass solche Heilungen sich psychologisch erklären lassen.
  • Möglicherweise sind da Kräfte am Werk, die wir noch nicht kennen. Wenn die Wissenschaft weiter fortgeschritten ist, werden wir auch solche Phänomene natürlich erklären können.

Ich war damals doch etwas überrascht, denn alle Anwesenden waren praktizierende Christen. Es ist wie zur Zeit Jesu: Warum fällt es gerade den Gebildeten so schwer, Wunder als Stützen des Glaubens anzunehmen? Denn das Evangelium sagt eindeutig: Wunder geschehen, damit wir glauben:

Noch viele andere Zeichen, die in diesem Buch nicht aufgeschrieben sind, hat Jesus vor den Augen seiner Jünger getan. Diese aber sind aufgeschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Messias ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen. (Joh 20,30f)

Wenn Jesus Wunder gewirkt hat, um seine Herrlichkeit zu offenbaren, warum sollte es Gott verboten sein, auch heute Wunder zu wirken, damit wir glauben?

Aber nicht umsonst spricht der Evangelist Johannes von Zeichen und nicht von Wundern. Verkehrszeichen sagen denen, die ihre Bedeutung gelernt haben, viel; aber denen, die sich um ihre Bedeutung nicht bemühen, sagen sie nichts.

Die Reaktion solcher Leute erinnert mich an Schuster Stute. Das war einer der beiden Schuster in dem westfälischen Dörfchen, in dem ich aufgewachsen bin. Sie lag im Souterrain, war recht dunkel, und von diesem Dunkel hob sich die Gestalt des Schusters ab durch das Licht, unter dem er mit seiner Lederschürze arbeitete. Er selbst war ein freundlicher, älterer Herr und seine Werkstatt sah aus wie in einem Märchenbuch.

Eines Tages im Oktober 1957 brachte ich ihm wieder einmal Schuhe zum Besohlen. Gerade hatten die Sowjets den ersten Sputnik ins All geschossen, was mich als Jugendlichen natürlich intensiv beschäftigte. Deshalb sagte ich zum ihm: Herr Stute, was sagen Sie denn zu dem Sputnik?

Der alte weise Mann rückte seine Brille auf die Stirn, schaute mich an und sagte: Gehörst Du auch zu den Leuten, die das glauben? Das ist doch gar nicht möglich! Und damit war für ihn die Sache erledigt.

So viel zum Unglauben.

Allerdings muss man eines hinzufügen: Der Wunderglaube enthält auch Gefahren. Er kann zu Aberglauben führen, er kann ein Zeichen von Sensationslust sein und vor allem: Er kann oberflächlich bleiben und schnell vergehen.

Denk einmal an die Reaktion der Menschen, welche die Wunderbare Brotvermehrung miterlebt haben:

Als sie das Zeichen sahen, das er getan hatte, sagten sie: <Das ist wirklich der Prophet, der in die Welt kommen soll.> Da erkannte Jesus, dass sie kommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum König zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, er allein. (Joh 6,14f)

Bei der Menge weckt die Wunderbare Brotvermehrung den Wunsch, Jesus zum König zu machen, denn dann ist ihr Wohlstand für alle Zukunft gesichert. Jesus ging es aber um den Glauben. Wahrscheinlich haben die meisten sich von ihm abgewendet, als er sich ihnen entzog. Denn solcher Glaube ist oberflächlich, er hält nicht.

Deshalb ist der Glaube, der durch ein Wunder entsteht, nur ein erster Schritt. Er muss sich im Alltag des Glaubens bewähren, und das ist mühselig.

Ich möchte das (außergewöhnliche) Wunder mit einem Blitz vergleichen. Für einen Moment erhellt er die Landschaft in dunkler Nacht, in der ein Wanderer unterwegs ist. Dann ist es wieder dunkel. Aber so kurz er auch war, er hat dem Wanderer Orientierung gegeben. Doch nun bleibt es ihm nicht erspart, weiter zu tappen. Und da wird er mit dem Fuß noch an manchen Stein stoßen, aber immerhin: Er weiß nun, dass die Richtung grundsätzlich stimmt.

Beim Thema Glaube - Unglaube finde ich die folgende Stelle im Evangelium ganz umwerfend. Sie erlaubt uns einen seltenen Einblick in das Seelenleben Jesu:

Während er am Pas-chafest in Jerusalem war, kamen viele zum Glauben an seinen Namen, als sie die Zeichen sahen, die er tat. Jesus aber vertraute sich ihnen nicht an, denn er kannte sie und brauchte sich von niemandem über den Menschen belehren zu lassen; denn er wusste, wie der Mensch ist. (Joh 2,23ff)

Es waren also viele, die durch die Wunder Jesu zum Glauben kamen. Aber Jesus war ein Realist und ein guter Psychologe. Deshalb vertraute er sich ihnen lieber nicht an.

Glücklicherweise gibt es aber eben auch diejenigen, für die das Wunder der Beginn eines beständigen Glaubensweges ist. Nach der Hochzeit zu Kana heißt es::

So tat Jesus sein erstes Zeichen in Kana in Galiläa und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn. (Joh 2,11) (Ehrlicherweise muss man hinzufügen: bis zur Nacht am Ölberg!)

Dasselbe gilt für Nikodemus, Pharisäer und Mitglied des Hohen Rates. Er begab sich zu Jesus und begann das Gespräch mit den Worten:

Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, der von Gott gekommen ist; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott mit ihm ist. (Joh 3,2)

Dass die Zeichen bei ihm der Beginn eines gefestigten Glaubens waren, geht aus folgenden Überlegungen hervor: Zu dem eben erwähnten Gespräch war Nikodemus bei Nacht gekommen - aus Angst vor seinen Standesgenossen. Später, als es im Hohen Rat darum ging, Jesus zu verhaften, ließ er diese Angst hinter sich. Er trat öffentlich für ihn ein und sagte:

Verurteilt etwa unser Gesetz einen Menschen, bevor man ihn verhört und festgestellt hat, was er tut? (Joh 7,51) Damit erreichte er das vorläufige Ende der Debatte.

Und bei der Grablegung Jesu kam er und brachte eine große Menge von Myrrhe und Aloe mit zur Salbung des Leichnams. (Joh 19,39) Er ist Jesus also treu geblieben über den Tod hinaus.

Wir sollten es auch so machen!

 

Herzliche Grüße

Dein Onkel Peter

Quellen

  • Dr. Alphoriso Olivieri, Präsident des Ärztebüros von Lourdes, Gibt es noch Wunder in Lourdes?, Pattloch-Verlag 1973, S. 12 ff
  • Dr. med. Erwin Theiß, Brücken zwischen Wissen und Glauben, Deutsches Ärzteblatt 88, Heft 11, 1991

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