Tipps zur Schriftlesung

Lieber Bernd,

schön, dass wir uns vor drei Wochen beim runden Geburtstag Deiner Mutter getroffen haben. Leider ist es von hier bis Köln doch so weit, dass wir uns relativ selten sehen.

Du hast mir von Deiner Firmvorbereitung erzählt, und das hat mich sehr interessiert, weil ich hier in meinem Pfarrverbund ja auch damit befasst bin. Und Du hast mir erzählt, dass Deine Katechetin Euch den Vorschlag gemacht hat, regelmäßig in der Heiligen Schrift zu lesen. Du hast offenbar viel Glück mit Deiner Katechetin, ihren Vorschlag finde ich sehr gut, denn die Hl. Schrift ist doch die erste Adresse, wenn es um eine Begegnung mit dem Hl. Geist geht.

Schade, dass Du nach dem ersten Versuch resigniert hast. Du hast mit dem Buch Exodus begonnen und sagst, es hätte Dir nichts gebracht. Und damit bin ich bei dem Anlass für meinen Brief.

Ich hoffe, Du nimmst es mir nicht übel, aber ich wollte Dich gerne ermutigen, es noch einmal zu versuchen. Und damit es dieses Mal besser gelingt, ein paar Ratschläge geben.

Einiges von dem, was ich zu sagen habe, hat Deine Katechetin Euch sicher auch schon gesagt, aber vielleicht ist ja doch noch ein brauchbarer Tipp dabei.

Tipp Nr. 1:
Such Dir in Deinem Tageslauf einen Zeitpunkt, der möglichst unbeeinflusst von Verschiebungen ist, z.B. die Zeit vor dem Aufbruch zur Schule. Eine Viertelstunde früher aufstehen ist zwar für Dich ein Riesenproblem, aber versuch es doch mal. Die Morgenfrühe hat so etwas Faszinierendes!  :-)

Tipp Nr. 2:
Du hattest mit dem Buch Exodus angefangen. Fang lieber mit dem Markus-Evangelium an! Es ist leichter zu lesen als das Buch Exodus.

Tipp Nr. 3:
Das Verständnis der Heiligen Schrift muss erbetet werden. Beginn deshalb Deine persönliche Schriftlesung mit einem kurzen Gebet, z.B. "Heiliger Geist. erleuchte mich!" oder: "Herr Jesus Christus, sprich zu mir!" Nur so finden wir einen gläubigen Zugang zum Wort Gottes. Denn die Hl. Schrift erschließt sich nicht, wenn man sie nicht als Heilige Schrift wahrnimmt.

Dabei muss ich an Deinen islamischen Mitschüler Achmed denken.

Er hatte sich Dir gegenüber ja mit Kopfschütteln darüber geäußert, wie Ihr mit der Schulbibel umgeht, dass manche in den Bibeln herummalen, sie auf der Fensterbank neben Kreideresten herumliegen lassen und dass Ihr sie unten im Klassenschrank aufbewahrt. Ein Muslim platziert den Koran nie tiefer als die Gürtelgegend und würde niemals ein anderes Buch darauf legen. Zu Hause hat der Koran einen Ehrenplatz oben auf dem Bücherregal. Und er schloss daraus, dass die Bibel der Christen eben nicht Gottes ureigenes Wort ist wie der Koran, sondern eine von Menschen verfälschte Schrift. Die Muslime glauben, dass im 4. Jahrhundert Irrlehren in die Bibel eingedrungen sind (Dreifaltigkeit, Gottessohnschaft Jesu), und dass alles, was ursprünglich in der Bibel gestanden hatte, nun im Koran steht. Und deswegen lohnt es sich nach ihrer Meinung auch nicht, sich mit ihr zu befassen.

Zunächst einmal: Was den Umgang mit der Bibel in der Schule angeht, hat Achmed leider nur allzu Recht.

Woran liegt das? Es gibt sicher mehrere Gründe dafür, aber ich fürchte, einer davon ist der Religionsunterricht selber. Und hier bin ich als Religionslehrer ja auch betroffen. Offenbar geht bei der wissenschaftlichen Herangehensweise, die ja im Religionsunterricht geboten ist, allzu leicht das Bewusstsein verloren, dass die Bibel Heilige Schrift ist. Vergleiche mal, mit welcher Ehrfurcht die Bibel im Gottesdienst behandelt wird, wie sie emporgehalten, den Gläubigen gezeigt und mit Weihrauch geehrt wird!

Tipp Nr. 4:
Auch im Markus-Evangelium werden Dir Stellen begegnen, die Du nicht verstehst oder ärgerlich findest. Du solltest Dich nicht lange mit ihnen aufhalten. Vielleicht kannst Du bei Gelegenheit mal einen Fachmann danach fragen.

Bisweilen erschließt sich einem aber auch der Sinn einer Stelle ganz unerwartet zu einem späteren Zeitpunkt. Das hängt mit der Lebenserfahrung zusammen. Und Du hast das Leben ja noch vor Dir.

Tipp Nr. 5:
Es ist wichtig, das Evangelium regelmäßig zu lesen, am besten täglich. Und es langsam zu lesen. Und nicht zu viel auf einmal, am besten abschnittsweise.

Tipp Nr. 6:
Der Beginn der regelmäßigen Schriftlesung ist vergleichbar mit einer Wanderung, bei der man nach zwei Stunden eine Pause macht. Das Aufbrechen nach der Pause ist zunächst mühsam, man kommt erst allmählich in die Gänge. Aber je länger man fortschreitet, umso leichter wird es. Am wichtigsten aber ist

Tipp Nr. 7:
Die Worte des Evangeliums sind Jesu Wort für Dich. Christus ist bei Dir und spricht zu Dir persönlich. Erst wenn Du Dir das klar machst, wird die Schriftlesung fruchtbar. Oft wollen wir in den Texten nur unsere eigene Meinung bestätigt finden, aber das ist eine verkehrte Einstellung. Wir müssen versuchen zu hören, was Er uns zu sagen hat. In dieser Hinsicht gewinnen dann manchmal auch die Stellen an Bedeutung, die uns zunächst ärgern und provozieren.

Tipp Nr. 8
Versuche am Schluss Deiner Schriftlesung, das Gelesene in einem kurzen Gebet zusammenzufassen, in dem Du den Text auf Dich beziehst. Das wird nicht immer gehen, aber man kann das üben.

Ein Beispiel: Nach dem Abschnitt über die Heilung des blinden Bartimäus (Mk 10,46ff): "Herr, Du hast Bartimäus von seiner Blindheit geheilt. Heile auch meine Blindheit!"

So, nun ist dieser Brief länger geworden als geplant, deswegen mache ich ganz schnell Schluss.

Ach nein, einen ganz praktischen Tipp habe ich noch vergessen:
Die persönliche Schriftlesung wird noch fruchtbarer durch eine fachlich qualifizierte Anleitung. Die kannst Du Dir aus dem Internet holen. Und zwar gibt es da eine Seite, die von irischen Jesuiten betreut wird. Bei unserer letzten Reise trafen wir einen der Autoren, ein eindrucksvoller Mensch! Die Seite heißt sacredspace.ie und will zur persönlichen Schriftlesung und zum persönlichen Gebet anleiten. Schau sie Dir mal an, es lohnt sich!

 

Herzliche Grüße

Dein Onkel Peter

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