Anhang 1:
geboren vor aller Zeit
Ja, ich finde es wirklich aufregend, dass Du genau dieselbe Frage stellst wie vor 1700 Jahren der Presbyter Arius in Alexandrien.
Kann man sich heute noch vorstellen, dass diese Frage die Bewohner der Stadt und weit darüber hinaus zutiefst aufgewühlt und entzweit hat? Die Frage, ob Jesus Christus wesensgleich dem Vater sei, wurde auf Straßen und Plätzen diskutiert und führte schließlich zur Kirchenspaltung.
Urheber der Auseinandersetzungen war ein Priester in Alexandrien, der offenbar mitreißend reden und predigen konnte. Gerade die Jugendlichen verehrten ihn wie einen Guru, denn seine Lehre schien viel logischer zu sein als die offizielle Glaubenslehre.
Was lehrte dieser faszinierende Mann? Lassen wir ihn selber sprechen:
Wenn der Vater den Sohn gezeugt hat, so hat der Gezeugte einen Anfang seines Seins. Es gab also eine Zeit, wo der Sohn nicht war.
Die ganze Bitterkeit des Streites kommt zum Ausdruck, wenn Arius spottet: Man verlangt von uns zu glauben: Gott war und ist immer, der Sohn war und ist immer…der Sohn war ungeboren bei Gott, ewig geboren, geboren, ohne geboren zu sein…
Und dann zieht Arius eine radikale Konsequenz:
Wenn der Sohn irgendwann geboren ist, dann ist nur der Vater wahrer und wesenhafter Gott, der Sohn nicht.
Die Lehre des Arius verbreitete sich in rasendem Tempo über die halbe Welt, obwohl bereits wenige Jahre nach seinem Auftreten das Konzil von Nizaea im Jahre 325 seine Lehre als Irrlehre bezeichnet hatte.
Was für Arius zu sprechen schien, war die Tatsache, dass die Hl. Schrift selbst den Begriff "gezeugt" verwendet. In der Apostelgeschichte und im 1. Johannesbrief wird das Wort des Psalms 2,7 Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt auf Christus bezogen.
Nun müsste man eigentlich darlegen, wie die Gegenseite argumentierte, denn ihre Lehre ist bis heute die offizielle Lehre der Kirche. Aber ich glaube, es braucht nur einen einzigen Hinweis, um deutlich zu machen, worin Arius irrte. Er verwechselte nämlich Zeit und Ewigkeit, oder anders gesagt: Er hielt die Ewigkeit für eine unendlich lange Zeit: Es gab also eine Zeit, wo der Sohn nicht war.
Diese Auffassung von Ewigkeit dürfte übrigens auch heute noch die am weitesten verbreitete Meinung unter den Gläubigen sein.
Nun ist aber Ewigkeit etwas ganz anderes. Sie ist die Existenzweise Gottes, und bei Gott gibt es keine Zeit. Schon die Relativitätstheorie hat uns gezeigt, wie relativ der Begriff der Zeit ist. Einen annähernden Begriff von der Zeitlosigkeit der Ewigkeit gibt uns ein Modell des großen Philosophen, Theologen und Mathematikers Nikolaus von Cues (1401 - 1464). Sein Geburtshaus kannst Du noch heute besuchen in Bernkastel-Kues an der Mosel.
Zeichne zunächst einen Kreis. Zeichne auf den Kreisbogen an einer beliebigen Stelle einen kleinen Strich und schreibe daran die Zahl 1, dann zwei cm weiter die Zahl 2000. Die 1 steht für das Jahr 1 unserer Zeitrechnung, die 2000 für unsere Zeit. Nun verbinde die beiden kleinen Striche mit dem Mittelpunkt des Kreises und das Schaubild ist fertig. Wie der Kreisbogen für die Zeit steht, steht der Mittelpunkt für die Ewigkeit.
Jetzt wirst Du fragen: Welchen Erkenntnisgewinn bringt mir diese Zeichnung? Ganz einfach. Nimm einen Menschen, der im Jahr 1 gestorben ist. Er geht in die Ewigkeit ein, in der Zeichnung geht er vom Kreisbogen zum Mittelpunkt. Auch der Mensch, der im Jahr 2000 gestorben ist, geht in das Zentrum ein. Auf dem Kreisbogen ist die Dauer der Zeit von 1 bis 2000 als Strecke von 2 cm ablesbar. Die Welt, die in der Zeit lebt, musste diese Strecke in den 2000 Jahren durchlaufen. Vom Mittelpunkt aus gesehen, sind aber beide Jahre, 1 und 2000, gleich weit vom Zentrum entfernt. Von dort aus kann man sie beide gleichzeitig sehen. Verstehst Du, wie genial dieses Modell ist? Zeit ist eine Strecke, Ewigkeit ist punkthaft. Zeit können wir uns vorstellen, Ewigkeit nicht.
Was bedeutet das nun für Deine Frage nach dem Zeitpunkt der "Geburt" des Sohnes?
Zunächst einmal bedeutet es, dass es für die Zeugung des Sohnes kein Vorher und Nachher geben kann, denn das sind zeitliche Begriffe, die in der Ewigkeit sinnlos sind.
Zweitens bedeutet es, dass der Begriff "Zeugung" eine Hilfskonstruktion ist, die in der Hilflosigkeit menschlicher Sprache etwas auszudrücken versucht, was sich der Sprache entzieht.
Denn der Begriff "Zeugung" ist in zweierlei Weise missverständlich:
- Er suggeriert einen zeitlichen Vorgang.
- Er suggeriert einen biologischen Vorgang.
Der Begriff ist aber von der Kirche nie biologisch verstanden worden, denn Gott ist Geist.
Hier setzt übrigens einer der massivsten Vorwürfe des Islam an. Der Koran fasst nämlich den Glauben an die Dreifaltigkeit biologisch auf. Dort werden als göttliche Personen der Vater, der Sohn und Maria genannt! Das richtet sich, wie man heute vermutet, gegen eine christliche Sekte, die damals im arabischen Raum tatsächlich diese abstruse Lehre vertreten zu haben scheint. Da dieser Vorwurf des Islam sich gegen eine Mini-Sekte richtet, trifft er nicht die Lehre der Kirche und erledigt sich somit von allein.
Wenn aber der Begriff "Zeugung" so missverständlich ist, warum hat man ihn dann ins Glaubensbekenntnis übernommen? Wäre es nicht besser, ihn zu streichen?
Nein! Die Konzilsväter von damals wollten sich so eng wie möglich an die Hl. Schrift halten und haben deshalb diesen Begriff gewählt im vollen Bewusstsein, dass die arme menschliche Sprache die Wirklichkeit Gottes niemals ausdrücken kann. Um jegliches Missverständnis auszuschließen, haben sie hinzugefügt, was "gezeugt" bedeuten soll. Denn es heißt im Glaubensbekenntnis weiter: gezeugt, nicht geschaffen. Hier wird deutlich: Der Begriff "gezeugt" wird als Gegenbegriff zu "geschaffen" verwendet. Was er ausdrücken soll, und das ist der zweite Grund für seine Beibehaltung: der Sohn ist dem Vater wesensgleich und das heißt: ebenso ewig, ebenso göttlich, in jeglicher Hinsicht dem Vater gleich.
Ergebnis:
geboren vor aller Zeit heißt: existent von Ewigkeit, in der es kein Vorher und Nachher gibt.